Rückblick Stolpersteinverlegung


Der weltweit bekannte Künstler Gunter Demnig verlegte am Sonntag, 29. Oktober, zur Erinnerung an ehemalige jüdische Bürger in der Kernstadt insgesamt 13 neue Stolpersteine. Zahlreiche Bürger nahmen an der feierlichen Zeremonie teil. Zwei Nachfahren, Rachel und Noam Shendar, waren extra aus Kalifornien angereist. Die Schwester Noams, Ronni Shendar, kam aus Berlin nach Borken. Leider konnten aufgrund der aktuellen Kriegslage im Nahen Osten vier weitere Nachfahren aus Israel nicht an der Veranstaltung teilnehmen.

Die Stolpersteine erinnern an die jüdischen Familien Rosenbusch, Lehrberger, Rosenmund und Leichtentritt, die seit dem 19. Jahrhundert in Borken lebten. Bürgermeister Marcèl Pritsch hob in seiner Ansprache hervor, dass sie zur relativ großen und gut integrierten jüdischen Bevölkerungsgruppe in Borken gehörten. Um das Jahr 1900 lebten bei einer Gesamtbevölkerung von 1.300 Einwohnern über 200 Jüdinnen und Juden in der Stadt. Sie arbeiteten als Metzger, Vieh- und Saatguthändler, verkauften Agrarprodukte, Bücher, Manufaktur- und Konfektionswaren. Vor allem in der Borkener Altstadt gab es bis 1933 zahlreiche jüdisch geführte Geschäfte.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 waren die Juden im Deutschen Reich Verfolgung, Ausgrenzung, Gewalt und Antisemitismus ausgesetzt – auch in der damaligen Bergbaustadt. Einigen Familien gelang die Flucht. So emigrierte die vierköpfige Familie Leichtentritt bereits 1933 nach Palästina. Andere blieben und erlebten den Schrecken und den Rassismus der NS-Diktatur.

Das Schicksal von Adele Rosenmund
Zu ihnen gehörte Adele Rosenmund, die seit ihrer Geburt im Jahr 1878 in Borken lebte und ihre Heimatstadt nicht verlassen wollte. Nach der Reichspogromnacht musste sie ihr Haus in der Bahnhofstraße verkaufen und nach Frankfurt umsiedeln. Von dort aus wurde sie 1941 nach Minsk deportiert. Adele Rosenmund ist eines von 6 Millionen Opfer der Shoah, des Holocaust.

Gunter Demnig hatte bereits in den Jahren 2014 und 2017 mit Stolpersteinverlegungen Erinnerungsorte in Borken geschaffen. Er verlegt die Steine jeweils an dem letzten frei gewählten Wohnort der Opfer des NS-Terrorregimes – diesmal in der Markt-, in der Bahnhofs- und in der Dr. Eckener-Straße.

Ronni Shendar erinnerte in bewegenden Worten an ihre Vorfahren: „Die jüdischen Bürger von Borken wurden verfolgt, ihrer Rechte beraubt, ihr Eigentum geplündert und beschlagnahmt, sie wurden gedemütigt, ausgehungert und dann mit Viehwaggons der Reichsbahn vom Bahnhof Kassel in die berüchtigten Vernichtungslager und Mordstätten transportiert, wo sie ermordet wurden, Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge.“

Allein in ihrer Familie gibt es elf Holocaustopfer: Johanna und Simon Mathias Rosenbusch wurden 1942 nach Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet. Frieda Lehrberger und ihr Ehemann Sigmund Portje kamen im Jahr 1942 in Auschwitz ums Leben. Alma und Manny Lehrberger wurden 1941 mit ihren beiden Töchtern Gertrud (9 Jahre) und Irene (14 Jahre) in Riga/Lettland umgebracht. Die 3. Tochter Margot wurde im Alter von 18 Jahren im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig getötet. Auf der Todesliste stehen auch die Namen von Hedwig Lehrberger, 1941 in Riga ermordet, und ihr Ehemann Sally Holzapfel, der im gleichen Jahr im KZ Gurs in Frankreich ermordet wurde.

Stadtverordnetenvorsteher Michael Weber ging in seiner Rede auf das Leid der NS-Opfer ein und erläuterte, dass auch die Stadt Borken Teil des Unrechtstaates war. So erhielt die Kommune nach der Reichspogromnacht die Gebäude der Borkener Synagoge und der Jüdischen Schule, die sie an NS-Organisationen vermietete. Der Bürgermeister, der NSDAP-Ortsgruppenleiter und der Leiter der Borkener Bergbaubetriebe wurden nach Presseberichten nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund ihrer Aktivitäten im „Dritten Reich“ zu Haftstrafen verurteilt. Angesichts aktueller Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien warnte Weber vor einem Erstarken des Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland.

Schülerinnen und Schüler der Gustav-Heinemann-Schule verlasen die Inschriften der Stolpersteine und legten Blumen an den Verlegestellen nieder. Auch die Rede von Zvikas Leichtentritt, der in Tel Aviv lebt und nicht ausreisen konnte, wurde von einer Schülerin verlesen.

Ulrich Fröhlich-Abrecht, Vorstandsmitglied der VR-Bank Bad Salzungen Schmalkalden eG, hob hervor, dass sein Institut Forschungsarbeiten zur lokalen Geschichte gerne unterstütze. Die Bank hatte zwei Stolpersteine gespendet. Ein dritter Stolperstein war von dem Lehrer Johannes Grötecke finanziert worden, dessen Vater in der Reichspogromnacht dem jüdischen Ehepaar Kaiser Unterschlupf gewährte und es in der Schreckensnacht vor Schlimmerem bewahrte. Nicht zu verhindern war, dass Joseph und Sarah Kaiser dann 1941 in Riga Opfer des Holocaust wurden.

Christopher Willing, Vorsitzender des Vereins zur Rettung und zum Erhalt der Synagoge Felsberg, lud die Bürger zu einer Besichtigung des rekonstruierten Gotteshauses ein. Die Synagoge war vor einem Jahr eingeweiht worden. Sie bringt seither jüdische Kultur und Religion dauerhaft in den Schwalm-Eder-Kreis zurück.

Die Stolpersteinverlegung war vom Stadtarchiv, dem Geschichtsverein Borken und dem Experten für jüdische Geschichte, Hans-Peter Klein aus Melsungen, organisiert worden. Der Geschichtsverein Borken lässt derzeit Unterlagen zur jüdischen Geschichte Borkens zusammentragen und systematisch auswerten. Eine zentrale Aufgabenstellung besteht darin, herauszufinden, wie viele Jüdinnen und Juden aus Borken überhaupt Opfer des Holocaust wurden.

Für die musikalische Umrahmung des Festaktes sorgten der Wiesbadener Künstler Dany Bober sowie ein Quartett mit Noreen Meyer, ihren Kindern Hanne und Jette sowie Annett Vestweber-Kaczorowski.

Bürgermeister Marcèl Pritsch bedankte sich sehr herzlich bei Gunter Demnig, den Schülerinnen und Schülern der Gustav-Heineman-Schule, den Musikerinnen und Dany Bober und resümierte: „Die Stolpersteinverlegung war eine würdige, beeindruckende und bewegende Veranstaltung.“

 

Ein unvergessliches Erlebnis
Yehudit Shendar, die leider nicht an der Veranstaltung teilnehmen konnte, bedankte sich aus Israel mit folgenden Worten für die Verlegung der Stolperseine:

„Der Bericht meiner Kinder war so emotional und ihre Dankesworte an die Organisatoren und an die Stadt überwältigend. Die Stolpersteinverlegung markiert ein wichtiges Ereignis in unserer Familiengeschichte. Das kleine Städtchen Borken, Geburtsort vieler unserer Verwandten, ist nun ein Erinnerungsort mit offiziellem Charakter. Meine Mutter, Inge Rosenbusch / Ayalon, verlebte hier, umgeben von einer fürsorglichen, liebenden Familie, eine glückliche Kindheit. All das endete abrupt.
Wie auch immer: Jetzt verbindet die junge Generation Borken mit den Grabstätten unserer Vorfahren und mit dem einstigen Wohnhaus. Sie empfindet Borken als wahren, wirklichen Ort der Familiengeschichte. Die Stolpersteinverlegung war ein unvergessliches Erlebnis für meine Kinder.“